Reanimationsauftrag für
einen klinisch Toten?
Am 23.März 2004
fand für den 19. Stadtbezirk eine Einwohnerversammlung
ausschließlich zum Thema "Stäblidurchstich"
statt. Einladender und damit alleinverantwortlich war der Bezirksausschuss 19.
Bürgerinnen und Bürger für und wider den durch den
Ortskern von Forstenried geplanten Straßenneubau als Verlängerung
der Stäblistraße bis zum Neurieder Kreisel durch dicht
begrüntes reines Wohngebiet trafen sich im Festzelt an der Züricher
Straße in Forstenried. Eingeladen waren erstmals auch Kinder und Jugendliche ohne genauere Altersangabe.
Diese Einwohnerversammlung war einzig und allein dem Thema "Stäblidurchstich"
gewidmet und sollte damit, nach der Satzung der Stadt München,
ausschließlich für den davon betroffenen Personenkreis
vorgesehen sein. Gekommen sind jedoch betroffene sowie nicht
betroffene, vorwiegend ältere Bürgerinnen und Bürger
des gesamten Stadtbezirks. Viele hundert ältere Teilnehmer, die überwiegend dem Klientel der "Ortskernfreunde" zuzurechnen
waren und von diesen, wie man hörte, mit Kleinbussen antransportiert wurden, strömten durch den Hintereingang ins
Bierzelt und erhielten dort ihre Stimmkarte. Dadurch wurden diese nicht, wie alle anderen Besucher, auf ihre
Stimmberechtigung hin überprüft.
Wie viele Bürgerinnen und Bürger sich tatsächlich
eingefunden hatten, war schwierig abzuschätzen. Die Presse ging
von etwa 2100 aus. Der Bezirksausschußvorsitzende Hans Bauer zählte
dagegen nur "1200 Personen mit Stimmkarte" und zeigte sich
deshalb auch recht überrascht. Er selbst habe mit etwa 2000
abstimmenden Teilnehmern gerechnet. Die Wahrheit dürfte somit
irgendwo dazwischen liegen.
Diese Aussage löste folglich bei vielen Teilnehmern Unverständnis
aus, da es Herr Bauer nicht gelungen war, für die anwesenden
Teilnehmer ausreichend Stimmkarten bereitzustellen.
Ohne Karte aber kein Stimmrecht, und davon betroffen waren überwiegend
Familien mit Kindern der Durchstichgegner, die auch noch zu späterer
Stunde kamen, nachdem diese ihre Sprösslinge zu Bett gebracht
hatten und der Babysitter gekommen war.
Mit 15 Minuten Verspätung startete dann diese
Einwohnerversammlung mit dem Vortrag der Verwaltung zum Stand der
Planungsarbeiten zum "Stäblidurchstich".
Wie eine Bombe schlug die Nachricht ein, dass die Verwaltung und
die dahinter stehenden vier Referate einvernehmlich dem Stadtrat die
Einstellung des Projektes Stäblistraßendurchstich
vorschlagen werden.
Eine geschlagene Stunde erläuterte das federführende
Stadtplanungsreferat anschließend in ausführlicher und
plausibler Form, unterstützt durch auf eine große
Leinwand projizierte Bilder und Pläne, welche Gründe zu
dieser Entscheidung geführt hatten.
Als Hauptargumente wurden angeführt:
Ein Durchstich würde wegen seines "Staubsaugereffektes"
deutlich mehr Verkehr nach Forstenried hineinziehen,
eine Verlagerung des Verkehrsstromes um 150 Meter nach Norden
bringt keine wirkliche Entlastung für Forstenried,
die gesetzlichen Lärmschutzwerte können mit vertretbarem
Aufwand trotz untersuchter unterschiedlicher Lärmschutzwandhöhen-
und -ausführungen nur zu maximal 75 % erreicht werden,
die nochmals niedrigeren Lärmschutzwerte vor Schulen sind
nicht einzuhalten und ein aktiver Lärmschutz ist wegen der dort
schon vorhandenen Straße nicht möglich,
mehr als 2,3 Meter hohe Lärmschutzwände sind städtebaulich
nicht vertretbar,
das juristische Risiko, vor dem Verwaltungsgericht wieder zu
scheitern, wäre unvertretbar hoch,
die gesetzlich vorgeschriebene Abwägung der verschiedenen Bürgerbelange
spricht gegen diesen Straßenneubau und würde für
einen Durchstich nicht standhalten,
für den bereits vorhandenen 2,4 km langen Straßenzug von
der Stäblistraße über die Lochhamerstraße ,
die Siemensallee bis hinein nach Thalkirchen wären bei einer
Realisierung des Durchstichs und einer dadurch dann zu erwartenden
Verdoppelung des Verkehrsaufkommens keine Lärmschutzmaßnahmen
gesetzlich vorgeschrieben und aus Kostengründen möglich,
fehlende Grundstücke müssten in jahrelangen
Enteignungsverfahren mit unkalkulierbaren Kosten und
Prozessrisiken erworben werden und dauerten bis zu über 5
Jahren,
die Gegner dieses Durchstichs würden bekanntlich bis zum
Bundesverwaltungsgericht prozessieren,
andere Planungsalternativen wie ein Tunnel oder eine Hochstraße
sind nicht zu finanzieren,
es gibt Alternativen, die bisher stark überlastete
Liesl-Karlstadt-Straße zu entlasten,
geplante intelligente synchronisierte Ampelschaltungen im gesamten
19. Stadtbezirk werden in Zukunft helfen, den Verkehr dynamisch zu
lenken und zu verflüssigen,
bisher sind keine Mittel für einen Durchstich im
Mehrjahresinvestitionsprogramm enthalten. Diese dürfen auch
erst eingestellt werden, wenn Planungs- und Finanzierungssicherheit
besteht, was aber nicht möglich erscheint.
Diese Offenheit und Deutlichkeit der Verwaltung überraschte
Befürworter wie Gegner gleichermaßen.
Nach diesem Bericht der Verwaltung, der immer wieder durch störende
Zwischenrufe einiger anwesender Stadtteilpolitiker unterbrochen
wurde, hatten nun die Bürgerinnen und Bürgern das Wort, um
Fragen oder eigene Anträge zu diesem Thema zu stellen.
Obwohl der Versammlungsleiter Hans Bauer angekündigt hatte, er
werde die Redebeiträge in der Reihenfolge ihrer Eingänge
aufrufen, erfolgte dies zumindest in einem Fall nicht so.
Zahlreichen Bürgerinnen und Bürger erschien die Reihung
der Redner nicht ganz zufällig.
Die Enttäuschung der Durchstichbefürworter entlud sich
bei diesen daher trotz der vorherigen Ermahnung von Herrn Bauer,
jetzt doch bitte nur mit Argumenten für die jeweiligen Ziele zu
werben, fast ausschließlich in polemischen Beschimpfungen, in
Gebrüll und sogar in bereits von offiziellen Stellen der Stadt
richtig gestellten Wiederholungen von falschen Behauptungen und
Verleumdungen der Durchstichgegner. Starke Worte mussten für
fehlende Argumente herhalten und sogar ursprünglich gemeinsame
Ziele wurden als "Lügen" angeprangert, nur weil sie
von den Gegnern verwendet wurden.
Auch mehrere Stadtteilpolitiker und Mandatsträger traten an
diesem Abend vor das Mikrofon. Mit einem bei derartigen
Versammlungen bisher noch niemals gezeigten Engagement und einer
auffälligen, teil polemischen Einseitigkeit setzten sich diese,
unberührt von den Argumenten der Verwaltung, ausschließlich
für den Durchstich ein. Dabei war für den Zuhörer
nicht zu erkennen, ob nun als Bürgervertreter oder als
Vorstandsmitglied eines ortsansässigen Vereins von Befürwortern
gesprochen wurde.
Die Durchstichgegner ließen sich jedoch kaum aus der Ruhe
bringen und versuchten die anwesenden Bürgerinnen und Bürger
mit Aufklärung und den besseren Argumenten zu überzeugen.
Dies hätte ihnen heute Abend eigentlich auch recht leicht
fallen sollen, denn alle ihre seit über 16 Jahren vorgetragenen
Argumente waren unisono bereits von der Verwaltung bestätigt
worden. An diesem Abend aber schienen Argumente nicht zu zählen.
Die Stimmung war viel zu aufgeheizt, um noch bereits gefasste
Meinungen zu ändern.
Das sah vor Versammlungsbeginn durchaus noch anders aus. Da drängten
sich noch viele Teilnehmer vor einer großen Informationswand,
die die Bürgerinitiative aufgestellt hatte. Viele Befürworter
wie Gegner wussten immer noch nicht genau, wo denn überhaupt
der Durchstich vorgesehen ist und ließen sich interessiert die
örtliche Situation erklären.
Die Redner der Bürgerinitiative forderten auch diesmal wieder,
den heute bereits unerträglich stark vom Verkehr betroffenen
Anliegern der Liesl-Karlstadt-Straße mit sofort umzusetzenden
Mitteln Linderung zu verschaffen.
Immer wieder wurden die Durchstichgegner von Zwischenrufen der Befürworter
unterbrochen. Sogar mit Trillerpfeifen versuchten diese ihre Gegner zu stören.
Als einmal besonders viele Zurufe aus dem Block der älteren
Befürworter erfolgten, konterte der Redner mit dem Hinweis,
dass diese einen Durchstich doch sowieso nicht mehr erleben würden.
Lieber mehrere Kindergärten und Schulen zu bauen sowie Lärmschutz
entlang der Autobahn und verkehrslenkende bzw. -reduzierende Maßnahmen
sofort zu realisieren, war ein weiteres Anlegen der Redner der Bürgerinitiative,
anstatt 34 Mio EURO und mehr in einen zweifelhaften und
rechtswidrigen Durchstich zu stecken. Dazu übergab die Bürgerinitiative
ihre Kostenkalkulation den Vertretern der Verwaltung mit der Bitte
um Gegenprüfung.
Gegen 22 Uhr war die große Redeschlacht beendet.
Nur ca. 30 Minuten dauerte dann noch die Abstimmung der wenigen
Anträge. Noch offene Anfragen an die Verwaltung versprach diese
schriftlich zu beantworten.
Nur die mit Stimmkarten ausgestatteten etwa 1200 Bürgerinnen
und Bürger waren nun aufgefordert, ihre Stimmen zu den
verschiedenen gestellten Anträgen abzugeben. "Ausschließlich"
die Anzahl der Stimmkarten, pro Person nur eine, wie Herr Bauer
vermerkte, wurden gezählt. Die Stimmberechtigten, die keine
Stimmkarte mehr erhalten hatten, hatten das Nachsehen.
Als ersten ließ Hans Bauer den generellen Antrag "für
oder wider die Weiterplanung des Durchstichs durch Forstenried"
abstimmen.
In der ersten Runde der Abstimmung dieses Antrags war einer größeren
Anzahl an Teilnehmern das augenscheinliche Abstimmergebnis nicht
eindeutig genug. Daher wurden nun die Stimmen in einer zweiten
Abstimmungsrunde getrennt nach Zustimmung und Ablehnung ausgezählt.
Eine kleinere Auszählungspanne durch die Doppelzählung
einer Tischreihe für die Durchstichbefürworter hatte
jedoch nur einen nicht allzu gravierenden Einfluss.
Mit einem Ergebnis von 64,7 % zu 35,3 % setzten sich die
Durchstichbefürworten dabei durch.
Doch verfälscht diese Ergebnis natürlich etwas die realen
Verhältnisse aufgrund der unterschiedlichen
Mobilisierungsaktivitäten der beiden Gruppierungen.
Auf der einen Seite die Befürworter, die im gesamten 19.
Stadtbezirk unter anderem mit etwa 40.000 Postwurfsendungen für
Stimmen geworben hatten und auf der anderen die Gegner, die
ausschließlich nur in einem engen Korridor um die Trasse Stäbli-,
Lochhamerstraße und Siemensallee geworben hatten.
Bei der Abstimmung fiel auf, dass fast die Hälfte der bereits
sehr betagten Bürgerinnen und Bürger von den
Befürwortern für den Durchstich stimmten und in ihrem
Abstimmverhalten durch am Rand stehende "Abstimmanweiser"
dirigiert wurden.
Die Altersstruktur der Teilnehmer war sehr deutlich nach oben
verschoben und damit nicht repräsentativ für den 19.
Stadtbezirk.
Berücksichtigt man diesen nicht direkt vom Thema betroffenen Wählerblock
sowie die von der Wahl aufgrund fehlender Wahlkarten
ausgeschlossenen bzw. wegen der Kinder früher wieder
heimgegangenen, überwiegend dem Klientel der Durchstichgegner
zuzurechnenden Bürger und Bürgerinnen beim Auszählergebnis,
so erkennt man die schon immer vorhandene Pattsituation der tatsächlich
direkt und indirekt von den Verkehrsproblemen im 19. Stadtbezirk
betroffenen Befürwortern und Gegnern des Durchstichs und dessen
Folgen.
Als Fazit dieser Veranstaltung lässt sich festhalten, dass die
Befürworter des Durchstichs mit ihrer vermeintlichen Mehrheit
alle Autofahrer in und um München geradezu eingeladen haben, in
Zukunft auf einer 150 Meter nach Norden verschoben neuen zweiten
Straße, mit beidseitiger 6 Meter hoher Schallschutzwand, verstärkt
durch Forstenried zu fahren. Dazu wolle man ihnen diese leistungsfähige
überörtliche Schnellstraße bauen lassen, die aber
wegen der Einhaltung gesetzlicher Schallpegelhöchstwerte natürlich
auf 30 km/h beschränkt werden müsse. Baubeginn etwa in 20 Jahren.
Forstenried muss sich, wenn es nach den "Freunden" des
Ortskerns von Forstenried ginge, folglich auf zusätzliche 9.000
Fahrzeuge am Tag einstellen, die dann direkt neben der Kirche und
der Grundschule vorbeischlichen. Aber, und das scheint ihnen ganz
besonders wichtig, eben nicht mehr durch die Liesl-Karlstadt-Straße!
Verkehrsberuhigungsmaßnahmen und Umbaumaßnahmen, die
bereits heute zu einer Verbesserung der Verkehrsbelastung im gesamten
Ortskern führen würden, werden von den Befürwortern
solange abgelehnt, bis der Durchstich kommt.
Was aber dann ist, wenn dieser doch nicht kommt, blieb ein gut gehütetes
Geheimnis der Dorfkernfreunde.
Erreicht wurde bisher nur eine weitere Polarisierung und Aufheizung
der Emotionen der Bürgerinnen und Bürger im 19.
Stadtteilbezirk. Die eigentliche Aufgabe, nach gemeinsamen Lösungen
für die Verkehrsprobleme zu suchen und im Stadtviertel
integrierend zu wirken, haben die hiesigen Bürgervertreter
deutlich verfehlt. Für viele war diese Veranstaltung die schrecklichste, die der 19. Stadtteilbezirk je erlebt hat.
Sie war ein Negativbeispiel für unsere anwesenden Jugentlichen, wie nun auch auf Bezirksebene Mehrheiten
"gemacht" werden. Eine Auseinandersetzung mit demokratischen Mitteln war dies jedoch nicht.
Der Bezirksausschuss, der, wie allgemein bekannt, mit Mehrheit
ebenfalls für den Durchstich wirbt, wird voraussichtlich das
heutige Votum für eine Weiterplanung des Durchstichs zu seinem
eigenen machen und den Stadtrat zur Weiterplanung auffordern.
Laut Verwaltung ist aber dieser Durchstich heute rechtlich gar
nicht mehr durchsetzbar und städtebaulich nicht mehr gewünscht.
Es ist unredlich, den Bürgern etwas versprechen und verkaufen zu wollen, was gar nicht mehr
"im Angebot" ist. Und das, obwohl die verantwortlichen örtlichen Politiker und Vereinsvorsitzenden
bereits seit 14 Monaten über das heute verkündete "Aus" informiert waren. Im Wirtschaftsleben wird
so etwas mit einer Abmahnung geahndet.
Aber der Patient "Durchstich" ist jetzt nun mal klinisch tot. Er muss nur
noch beerdigt werden.
Sollte sich der Stadtrat, gegen jede Vernunft, dennoch dem
Einwohner- bzw. Bezirksausschussvotum anschließen und
weiterhin auf der Fortführung der Planung bestehen, dann ist dies vergleichbar mit einem aussichtslosen
Reanimierungsversuch an einem bereits klinisch Toten.
Dann aber "Gute Nacht liebe Steuergelder", denn Tote
erwachen nur in Märchen oder Gruselgeschichten!
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